Der neue IONIQ 6 aus dem Hyundai-Stall zeigt sehr deutlich die Diskrepanz zwischen Anspruch und Realität bei Elektromobilen
Die politische Vorgabe unter dem Zeichen der Umweltfreundlichkeit findet im neuen IONIQ 6 eine Verwirklichung, die kaum kontroverser sein könnte. Die Elektromobilität wurde mit diesem Auto auf eine Weise umgesetzt, die in Bezug auf Aerodynamik und Verwendung umweltfreundlicher, recycelter Materialien und Farben (z.B. aus alten Reifen oder Bambus!) beispielhaft sind, und auch die Optik ist außerhalb der Geschmacksfrage sehr stylish und windschlüpfrig (CW-Wert 21), ja geradezu grazil. Dass letztere vorteilhaft für die Reichweite sein könnte, darf man zwar vermuten, aber erst der praktische Fahrversuch könnte die Effizienz erweisen. Der neue Elektrogleiter ist größer als er aussieht, was man auch im Innenraum merkt. So weit so gut. Auch beim Komfort ist der IONIQ 6 vorbildlich: Die innere Gestaltung wirkt sehr großzügig und aufgeräumt, kein Firlefanz stört das Auge und alle unmittelbaren Funktionen, etwa die Einstellung der Relax-Sitze, praktische Ablagen oder die Funktionselemente am Lenkrad orientieren sich an den Insassen. Auch sehr gut! Etwas gewöhnungsbedürftig sind die diversen Assistenzsysteme, wo der Tote-Winkel-Assistenz besonders positiv auffällt, die über Kameras in den Innenraum übertragene digitale Sicht nach hinten samt Rundumsichtüberwachung wirkt anfangs etwas verzerrt, bringt aber eine hervorragende Übersicht darüber, was sich rund um den IONIQ befindet oder bewegt.
Verspielte Digitalisierung, nicht sehr praktikabel
Selbstverständliche Optionen, wie etwa Klimatisierung, Radiobedienung etc. lassen sich über den zentralen und großen Bildschirm sehr effektiv steuern. Dort findet man aber auch die Übersicht für alle anderen Assistenzsysteme, deren Handhabung sich als mehr oder weniger überflüssige Spielkonsole für den Beifahrer oder die Beifahrerin herausstellt. Reifendruckkontrolle ist zwar informativ, wird aber je nach Wetterlage oder Fahrweise relativ, der (leider EU-gesetzlich vorgegebene) Spurhalte- wie auch der Abstandsassistent verführen zu unaufmerksamer Fahrweise oder verdecken mangelndes Fahrkönnen und die Suchfunktion für Ladestationen ist eher verwirrend, weil die Art und Ladekapazität nicht angezeigt wird. Fatal, wenn man bei geringer Reichweite die falsche auswählt, nur weil sie die nächstliegende ist – die dann vielleicht auch noch besetzt ist. So kann die angepriesene Vernetzung zum Bumerang werden und elendslange Ladezeit zur Folge haben. Da hilft auch das Head-up-Display nicht, wenn man verzweifelt eine Power-Station sucht, die weit und breit nicht vorhanden ist oder große Umwege verursacht. Soweit der kritische Blick auf die digitalisierte Technik, die manche Fans begeistern mag, jedoch die Fahrpraxis leider direkt beeinflusst.
Ernüchternde Langstrecke, problematische Ladepraxis
Und jetzt geht´s an Eingemachte, nämlich der Erfahrung im tagtäglichen Verkehr, egal wo. In der Enge der Städte oder bei geringeren Entfernungen kann der IONIQ 6 als Chauffeurlimousine genützt werden, in der der Passagier überaus komfortabel transportiert werden kann. Da ist auch kaum ein Lade-Problem zu konstatieren, weil der Fahrer nach einem geeigneten Lade-Platz suchen kann. (Schnellladestationen sind eher sehr dünn gesät und meist besetzt oder stark frequentiert). Wer selbst fährt, hat da eindeutig und vor allem außerhalb von Ballungszentren eventuell das gleiche Problem wie andere Elektromobilisten. Wirklich problematisch wird´s dann auf Langstrecken, wo die geeigneten Ladestationen nicht nur schwer zu finden, sondern auch meist besetzt sind. Verstärkt wird das Problem auf Autobahnen, wo man, schon um im allgemeinen Verkehr mit-zu-schwimmen, höhere Geschwindigkeiten erreicht (was in Deutschland zum Reichweiten-desaster führen kann). Da schrumpft dann auch die angezeigte 460 km-Reichweite sehr schnell um ein Drittel, wenn man die Höchstgeschwindigkeit von 185 km/h mitunter ausschöpft auf knapp mehr als die Hälfte. Aber diese Problematik ist allen Stromern eigen, nicht nur dem IONIQ 6, wobei, sofern man (bei der adäquaten Ladestation) Glück hat, die feine Schnell-Lade-Technik die Standzeit deutlich verkürzt.
Bilanz des ausführlichen Tests: Der IONIQ 6 ist ein sehr komfortables Gefährt, bietet Platz in Hülle und Fülle, schaut gut aus – aber die Langsteckentauglichkeit lässt ziemlich zu wünschen übrig. Und ganz preiswert ist er auch nicht! Er ist genauso funktions-begrenzt, wie alle Elektromobile ….
IONIQ 6
Long Range 77,4 kWh 4WD
Gesamt-System-Leistung: 239,3 kW (325 PS)
Permanentmagnet-Synchronmotor / Lithium-Ionen-Polymer Batterie
Beschleunigung 0-100 km/h 5,1 Sek.
Höchstgeschwindigkeit: 185 km/h
Allradantrieb / Getriebe einstufig
Gewicht: 2078 kg / Länge: 4855 mm / Breite: 2073 mm
Max. Reichweite: 583 km (Test: 350 km)
Preis (Testauto):€ 72410,-