Widerstand fängt mit dem Versuch selbstständigen Denkens an, das – in der allgemeinen Praxis – durch gesellschaftliche Normen und Rituale schon möglichst früh behindert wird. Der Einfluss herrschender Systeme soll im Sinne der identifikationsstiftenden Uniformität möglichst früh etabliert werden, möglichst mit den ersten Kommunikationsschritten einer manipulativen Sprachregelung, die die gesellschaftlichen Wertigkeiten festlegt. Damit gilt es, das Erreichte zu erhalten, nicht in Frage zu stellen, das jeweils gültige Prinzip zu konsolidieren um die Fortsetzung der Vergangenheit zu garantieren. Das System ist immer darauf angelegt, sich selbst zu bestätigen und sein Überleben zu sichern, auch wenn der Preis der der Abstumpfung und der Erkenntnisfeindlichkeit ist. Deutlich wird dies in vielen unserer staatlichen aber auch nichtstaatlichen Gemeinschaften, die je nach Grad der Homogenität auch die Gefahr des Abgleitens in ein diktatorisches System enthalten. Gleichgültigkeit ist ein Triumph für jedes System. Abseits zu stehen dagegen schärft den Blick und vermittelt die Gabe, ungebundener zu empfinden und zu urteilen, auch wenn das Infragestellen der systemimmanenten Glaubenslehren als Bedrohung für den Fortschritt und das wirtschaftliche Wohlergehen denunziert wird. Der Widerstand gegen die Degradierung des Menschen zum Markenartikel und die Werte des Konsums ist auch einer gegen ein diskussionsloses Apartheidsystem ohne humanistische Inhalte. Kultur, so sagte mein Bruder, beginnt dort, wo Gemeinplätze und vorgefasste Meinungen überwunden, wo eroberte Positionen erschüttert werden können. Was aber auch zu ganz konkreten Nachteilen innerhalb der gesellschaftlichen Umgebung und Kultur führt – fast als psychologisches Aktio-Reaktio-Prinzip, wenn der Widerstand besonders stark wirkt, wird auch die Reaktion der Gesellschaft eine besonders starke sein. Was aber bedeutet Kultur wirklich?

Ist überhaupt noch Platz für Kultur? Kultur bestand schon immer aus einer gewissen Art und Weise, die Welt zu betrachten, vor allem in einem anderen Blickwinkel auf Andere. Kultur geht über Stereotypes hinaus, kreiert eventuell aber möglicherweise neue. Kultur hat keinen Daseinszweck, ist auch kein Kunsthandel, jedoch ist dem Widerspenstigen der Vorrang einzuräumen, weil sie den Mut beweisen, Ideen hervorzubringen und Gehorsam zu verweigern. Nur so wird das Leben lebenswert, die oft einsame Freude am Geschaffenen, oder sogar Trost im Leben an sich zu finden. 

Den Wert einer gesellschaftlichen Kultur kann man am Umgang mit seinen Kritikern messen, an der Akzeptanz gegenüber jenen, die sich unkonventionell über Normen hinwegsetzen, die Kritik üben und sich gegen geistige wie militärisch-materielle Uniformierung wehren. Abgrundtiefer Argwohn gegenüber allem Uniformierten – optisch wie geistig – ist auch die Basis der Fähigkeit und Neigung, sich über Konventionen hinwegzusetzen, sich zu „separieren“, sowohl als Persönlichkeit als auch politisch. Das Gegenteil wird vom Brauchtumsbegriff trefflich charakterisiert: Brauchtum vereint, bestätigt und schirmt auch vor der Furcht vor dem, der weiß, ab. Deshalb ist auch die sogenannte Traditionspflege so „wichtig“ und unentbehrlich, weil sie einen ungetrübten, selbstgerechten Wohlstandsschlaf garantiert. Sie hat sich bewährt, der Gesellschaft zu einem tragenden Gefühl zu verhelfen, die einem zuverlässigen Modell der zeremoniellen Erstarrung huldigt. Der Unfug der Moderne nagt zwar daran, ersetzt aber nur ein Ritual gegen ein anderes. Kulturelles und geschichtliches Bewusstsein sowie der Rhythmus sozialer Interaktion wird von einem Symbol „ewiger“ Werte bestimmt – die die Fortsetzung der Vergangenheit garantieren. Das gesellschaftliche Selbstverständnis als ausgehöhltes Ritual. Das gemeinsame, institutionalisierte Ziel rechtfertigt die Forderung nach Gehorsam und Unterordnung, fördert den Zusammenhalt Gleichgesinnter und konformes Verhalten. Die Ablehnung des Fremden ist der Klebstoff der Gesellschaft, Schwerverständliches wird ausgegrenzt. Das ist Normalität, die zur öffentlichen Moral geworden ist. Tradition ist überlieferte Dressur! Auch die religiöse Verherrlichung des Gehorsams wird durch die enge Verbindung zwischen Religion und Macht zum Instrument, da Ungehorsam einer Rebellion gegen Gott gleicht. Damit wird Religion in Gemeinsamkeit mit weltlicher Macht zum tradierten (totalitären) Staatsprinzip, das so weit verbreitet und zur Gewohnheit geworden ist, dass man es fast nicht mehr wahrnimmt.

Es ist aber eher Sünde, dieses Leben nicht zu bejahen, das sichere, gewisse Leben auf der Erde im Namen einer fiktiven, jenseitigen Schimäre aufzugeben. Für eine Kultur lohnt es sich nur dann zu kämpfen, wenn sie im Dienste des Lebens steht, nicht in dem einer Ideologie, besonders dann nicht, wenn die Individualität dabei unterdrückt wird. Das meint auch (der französische Philosoph) Michel Onfray im Einklang mit Albert Camus. Wird jedoch die ideologische Kultur zum Dogma, zur Heilsbotschaft, dann besteht die große Gefahr der Selbstüberschätzung, die darin gipfeln kann, sich selbst als Kultur, als Fiktion, als Nation oder das, was dafür gehalten wird, zu erhöhen, überlegen, besser, ja auserwählt zu sehen. Und die Anziehungskraft auserwählter Völker ist groß. 

Das „Auserwähltsein“ begründet durch das Festschreiben der ethnischen, ontologischen und metaphysischen Ungleichheit der Rassen – und Völker – den Rassismus. Daher steht es – egal  ob Tempel, Synagoge, Kirche oder Moschee – an allen Orten jedoch um die Intelligenz nicht zum Besten. Man sieht es lieber, wenn sich das Volk den Dogmen und dem Gesetz unterwirft, also jenen, die sich als die Auserwählten, die Abgesandten und die Sprecher Gottes ausgeben. 

Der Wahn des Auserwählt-Seins legitimiert Kolonisierung, Enteignung, Hass und Zwietracht zwischen den Völkern und nicht zuletzt auch eine bewaffnete Theokratie. Diese bedeutet die Auflösung des Individuums in der Gemeinschaft, die sich im Lob kriegerischer Tätigkeiten, in Disziplin, in der Kritik der Menschenrechte und der permanenten ideologischen Propaganda äußert. Theokratie ist, auch wenn sie versteckt wirkt, Faschismus gleichzusetzen. Das Interesse an der Entfremdung der Masse (der Ohnmächtigen) versteckt sich hinter Phrasen, in denen von „Pflicht“, „Ordnung“, „Vaterlandsliebe“, „Ehre“ etc. die Rede ist, die entfremdende Instrumentalisierung wird als etwas gesellschaftlich Notwendiges und moralisch Wertvolles dargestellt – und im Falle der Vollendung auch empfunden, wie mein geschätzter Lehrer Igor Caruso feststellte. Entfremdung ist „sozial geprägte Unfreiheit“. Und es ist immer wieder verwunderlich, mit welcher Selbstverständlichkeit es die Menschen zustande bringen, nicht nur das Beste in ihnen einfach abzustreifen, verkommen zu lassen, nein, es sogar mutwillig zerstören zu wollen. Zivilisation als Perversion, die zur göttlichen Norm erhoben wird.