Persönlichkeit und Selbstbestimmung

Die Personalisation kann man als Loslösung von unbewussten Determiniertheiten zugunsten von selbstgewählten sehen, als ein „Sich-Öffnen“ der Welt und den Mitmenschen gegenüber. Sie schließt auch eine Erweiterung des Handelns, eine Minderung der Fremdbestimmung und eine Erweiterung im Sinne einer progressiven Autonomie ein. Der Prozess der Personalisation ist also als zunehmende Selbst- und Weltverwirklichung zu definieren. Dies, weil der Mensch nach Ergänzung und Lust strebt, die als angeborene Schemata keine Verdrängung zulassen, andernfalls Negation und Unterdrückung zur neurotischen Verdrängung führen. Entfremdung bedeutet auch, dass sich technisch-ökonomische Momente und die Warenwelt als stärker erweisen als die menschlichen Bedürfnisse. Die Summe der Entfremdung liegt in Unterdrückung, Aggressivität; Pervertierung, Irrtum, Ideologisierung, Hass und Angst. Die Gegenwart beweist dies eindrucksvoll. Die Reduzierung des Sozialen auf die Stufe der Produktion ist eine Ideologie der Leistungs-Wegwerf-Gesellschaft und hat nichts mehr mit Individualität oder Selbstbestimmung zu tun. Alle Modi der Flucht – psychologisch, philosophisch und theologisch – führen zur De-Personalisation. Neurotische Symptome sind „Störungen in der Kommunikation mit der Welt“

Wert- und Normensysteme

Wo in Gruppen starr am überlieferten Sprachgebrauch, an Wert- und Normensystemen, die die Haltungen bedingen, festgehalten wird, ist progressives Bewusstwerden behindert und die Gruppe verfällt in institutionalisierte Systeme des Denkens und Verhaltens, die im Grunde den Tod der Gruppe bzw. das Ende der Entwicklung bedeutet. Es darf angenommen werden, dass Institutionen, die ihre Machtansprüche besonders hartnäckig verteidigen, an Ängsten (Angstzuständen) des Menschen Interesse haben. Damit wird das Gehorsamsproblem zum Angelpunkt jeder Sozialordnung. Die Abweichung von der gesellschaftlichen Norm wird geächtet. Darauf basiert ein großer Teil der modernen Kommunikation, die sich auch an den Formulierungen messen lässt. Der Kritiker „behauptet“ während der Inhaber der Macht „feststellt“, was die Frage nach den Grundsätzen der Zivilisation provoziert.

Wollte man den Ist-Zustand unserer westlichen Gesellschaft(en) charakterisieren, kann ein Zitat von Michel Onfray kaum treffender sein, in dem er sich einmal mehr auf Albert Camus bezieht: Es dominieren monotheistische jüdisch-christliche Dogmen und monströse Staatsapparate. (siehe weiter unten). Die ideale Gesellschaft wird aus hegelianischen Begriffen zusammengezimmert, die Freiheit bleibt abstrakt und existiert nur auf dem Papier, es herrschen nihilistischer Egoismus und ein Kult um abstrakte Fiktionen.

Die Geschichte der Menschheit ist, sehr allgemein betrachtet, nicht sehr erbaulich, ja, sie verspricht vielmehr zunehmend eher amputierte Zukunftsaussichten. Die Unmündigkeit menschlichen Verhaltens, insbesondere der Industriegesellschaften, reduziert die Chancen-Dimensionen künftiger Generationen auf immer kleinere, jedenfalls im Vergleich zur Buntheit oft schon verschwundener bzw. zerstörter oder ausgerotteter Gesellschaftsformen. 

„Die abendländische Zivilisation hebt sich von anderen insofern ab, als sie dem Rest der Welt derart zahllose Kriege und Zerstörungen beschert hat, dass ein bisschen mehr Bescheidenheit sicher nicht fehl am Platze wäre.“, (sagte mein Bruder Oliver, der wohl seine Erfahrungen in vielen gegensätzlichen Kulturen zusammenfasste.) Oder anders gesagt, waren sich in einem Punkt Platon (Politeia), Hegel (Grundlinien der Philosophie des Rechts) mit Mussolini, Hitler, Pétain und andere Faschisten einig: Die Grundzelle der Gesellschaft liegt dort, wo die Religion und somit die Politik und die Theokratie verankert werden. Denn der Grundstein der Gesellschaft wird im engen Kreis der Familie und der Stammes gelegt (siehe Michel Onfray) und muss deshalb möglichst kontrolliert und beeinflusst werden. Jede Theokratie, die sich an einem außerhalb von Raum und Zeit stehenden, fiktiven Universum orientiert, trachtet nach einer Reproduktion des Archetypus, also des Gottesstaates. Die Demokratie lebt von ständigen Bewegungen und Veränderungen, von fließender Zeit und dialektischem Spiel – Theokratie funktioniert auf entgegengesetzte Weise. Totalitarismus definiert sich als eine Ausweitung des Politischen auf die Gesamtheit aller Lebensbereiche – er gibt also eine rassische, religiöse, faschistische Idee vor  – weshalb es dann eine christliche, islamische etc. Gesellschaft bis in alle Teilbereiche gibt bzw. geben muss. Daraus resultierender „Nationalismus“ erhebt stets eine Nation über alle anderen und führt so zur Ungleichheit der Nationen, wobei das Wort „Nation“ leicht durch „Religion“ oder noch allgemeiner durch „gesellschaftliche Werte“ ersetzt werden kann. 

Die Pariser Kommune (März bis Mai 1871) war eine der wenigen wirklich revolutionären Bewegungen, die libertäre Maßnahmen umzusetzen begann: Neben der Ausrufung einer universellen Republik, der Abschaffung der Todesstrafe und der Einrichtung von Arbeiterkooperativen wurde die Arbeitszeit auf 10 Stunden täglich begrenzt, die Lohngleichheit von Frauen und Männern, die Einführung eines Mindestlohns, die Trennung von Kirche und Staat, der Bruch mit dem Konkordat, die Säkularisierung kirchlicher Güter, kostenlose, konfessionslose Schulen, Pressefreiheit und die Gründung von Berufsschulen angestrebt. Im Zuge der Zerschlagung der Pariser Kommune wurden rund 20000, wahrscheinlich mehr Menschen ohne richterliches Urteil getötet und das Bündnis für Freiheit, Würde und Brüderlichkeit verhindert. Eine neue Gesellschaftsordnung, eine libertäre, nichtmarxistische linke, wurde mit Blut weggespült (siehe A. Camus „ Der Mensch in der Revolte“). Libertäre stehen für eine nur durch Ethik begrenzte Macht, sagte Camus ebenfalls.  Libertär zu sein, bedeutet nämlich, keine soziale oder politische Beschränkung der individuellen Freiheit zuzulassen oder anzuerkennen. Das wird oft als Anarchie bezeichnet und zum Feindbild der herrschenden Ordnung. 

Dogmen und Fiktionen

Heute herrscht – vor allem in großen Städten – weitgehend Verzweiflung: Monotheistische, jüdisch-christliche Dogmen dominieren monströse Staatsapparate, die Freiheit ist abstrakt und existiert nur auf dem Papier, der nihilistische Egoismus – auch in Form eines wahnwitzigen Konsumterrors – ist der Kult einer abstrakten Fiktion. Man ergeht sich in einer sozusagen mythischen Einfachheit des Verhaltens, begleitet von einem starren, erloschenem Blick fossilisierter Selbstsicherheit kultureller Sterbehäuser.

Der Staat sollte jedoch kein Herrschaftsinstrument des Kapitals sein sondern als Regulationsinstrument zwischen föderierten Instanzen dienen. (Proudhon). Und noch einmal Camus: „Die Demokratie ist nicht das Gesetz der Mehrheit sondern das Beschützen der Minderheit.“ Ordnung kann es nur im Herzen einer Gesellschaft geben, die sich aus freien, gleichberechtigten und solidarischen Mitgliedern zusammensetzt (Sebastien Faure).